Ein Gott aus Malstatt
oder wie Kult entsteht


Kräftiger Spann, anpackende Hände, energische Nase und Ohren, die alles hören. Jede leiseste Bewegung des Balls, jede Absicht, die Pille im Eck zu plazieren, jeden Versuch, mit einem Lupfer den herausstürmenden Torwart zu überlisten - all das scheint über diese Ohren ohne Umweg ins Leder der Handschuhe zu fließen. Ein Mann, geschaffen für den Kult: Carlos. Zwar gehörte er nicht zu denen, die jene Dachgeschoss-Wohnung im Saarbrücker Westen aus dem Dämmer der Bedeutungslosigkeit herausholten. Aber so wie Carlos vor jedem bedeutenden Turnier, wenn alle nach dem Frühstück aufbruchsbereit waren, lässig einflocht, er müsse noch kurz unter die Dusche, so kam er eben mit ein paar Monaten Verspätung in die Leipziger Straße 52. Und hatte doch enormen Anteil daran, sie zu einer Kult- oder Kultur??-adresse zu machen. Wenigstens für ein paar Jahre. Und schließlich titelte die "Stadtzeitung Saarbrücken" (ein bedeutendes Blatt aus mehreren Hochglanzseiten) im Oktober 96, als die 52 so ungefähr auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes angelangt war, auf der ersten Seite: "Carlos du Gott oder alles Dada". Während die Wenigsten wirklich wissen, worum es sich bei Dadaismus handelt, ist die Gemeinde derer, denen der Name Carlos und die wahre Bedeutung der Zahl 52 vertraut sind, heute sehr groß. Selbst Kinder, gerade der Sprache mächtig, brechen in Jubel aus, wenn sie die göttlichen Silben vernehmen.
Carlos, Jahrgang 65 (kann ja nicht alles stimmen), lange wohnhaft in Malstatt, Leipziger Straße 52. Mit ihm verknüpft und in ihn verwoben ist die Hausnummer 52, sie ist mit ihm und er ist mit ihr zu einem Mythos geworden, er ist ihr Aushängeschild.
Danach gefragt, wie denn der Kult um eine Hausnummer und seine Person entstehen und wachsen konnte, antwortete Carlos vor Jahren in einem bis heute unveröffentlichten Interview: "Es fing ganz klein in unserer WG an, mehr aus Spaß. Wir hatten einen guten Zusammenhalt, und das wirkte nach außen."
Aus der Vier-Mann-WG wurde schnell mehr, sie wurde zu einer Familie, den '52igern'. Das Besondere an dieser Truppe war nicht, daß sie es verstanden, große Party's zu feiern, sondern daß bei solchen Anlässen alle zugegen waren, Eltern, Nachbarn, brave und weniger brave Studenten und waschechte Molschder, langhaarig und tatoowiert. Den Flair der 52iger machte diese kulturelle und soziale Mischung aus. Und Carlos transportierte, mit dem spanischen Temperament seiner Mutter ausgestattet, diese Stimmung über die Jahre hinweg, ließ die '52' zu einem Kultsymbol werden, besonders mit der Leipziger 52.
O-Ton Carlos: "Durch die Fußballmannschaft wurde es dann eine Art Fanatismus. Mit den Jahren schrieen immer mehr die Leute, die gar nicht aus der 52 sind." Vielleicht rührt ja auch daher die Shirt-Aufschrift "gegen alles" im Jahr nach dem legendären Voyeur-Cup-Sieg der Leipziger 52, in den Jahren zuvor eher als angenehmer Sparringspartner betrachtet. Und mit diesem Jahr war wohl auch der höchste Kultstatus jener WG, die es da schon lange nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form gab, überschritten. Macht nix, auch heute spielen Carlos und Co Fußball. Zwar nicht mehr jeden Sonntag, aber dafür wenn möglich noch jeden Voyeur-Cup. Denn mit der ersten Ball-Berührung ist das alte Gefühl wieder da. Und in Carlos Torwarthandschuhen, da steckt auch heute noch eine Menge Magie, aus der Kult keimt.


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